Große Aufregung in der Bildungsrepublik Deutschland, seit ein Kölner Teenie neulich auf Twitter den Blues hatte: @nainablabla haderte mit „Gedichtsanalysen“ (sic!), wollte doch lieber Steuertipps in der Schule lernen und bekam dafür 27 000 Sternchen.
https://twitter.com/nainablabla/status/553881334813560832
Pausenlos kommentieren jetzt mutmaßlich mittelalterliche Absolventen altphilologischer Lehranstalten in etablierten Bildungsbürgermedien (Erbaulich zu lesen: Tagesspiegel und Spiegel!), wie nützlich für’s spätere Leben es doch sei, auch Unnützes und Langweiliges erst ertragen und dann auswendig zu lernen.
Da ist was dran, aber die Frage von @nainablabla bezog sich sicherlich auch darauf, ob und wie die Schule überhaupt in der Lage ist, Kinder auf das immer komplizierter werdende Leben vorzubereiten. War sie es überhaupt jemals? Eine Kernfrage für alle Eltern, Kinder, Bildungspolitiker und -Experten seit Aristoteles. Fehlt nur noch das übliche „Früher war alles besser“. War es besser?
Kurzer Checkup autobiographischer Art:
- Ich kann mich sehr wohl daran erinnern, dass mich gegen Ende meiner bayerischen Abiturphase durchaus der Gedanke umtrieb: „Warum müssen wir in Wirtschafts- und Rechtslehre eigentlich immer nur anhand einer erfundenen Volkswirtschaft mit einer obskuren Währung namens ‚Djangos‘ die Kreisläufe des Geldes und andere Modelle simulieren, statt mal zu erfahren, ob unsereins vielleicht gleich mit 18 einen Bausparvertrag abschließen sollte?“
- An die Aufgabe, die Schlüsselszene „Wald und Höhle“ im Faust zu analysieren, denke ich noch immer gern zurück – auch wenn ich’s danach wirklich nie mehr gebraucht habe. Dennoch geht mir noch heute das Herz auf, wenn einer aus dem Faust zitiert oder eine neue graphic novel zum Thema erscheint. Langfristige Horizonterweiterung ist eben nicht eins zu eins gegen sofortige Anwendbarkeit aufzuwiegen.
- Gallia est omnis divisa in partes tres … Den Anfang des „Gallischen Kriegs“ spätnachts auf Parties zitieren zu können, machte zumindest in Zeiten vor Google hin und wieder Eindruck. Als wirklich hilfreich erwies sich ein in den diversen Jahren Lateinunterricht merkwürdigerweise doch über die Hirnmembranen eingesickertes Grundverständnis für die allerobskursten Fremdwörter und Neologismen. Es war nicht alle Paukerei völlig unnütz, auch wenn man es als Kind kaum glauben kann.
- Leider wurden umgekehrt selbst manche offenkundig alltagstauglichen Dinge (Dreisatz …) zumindest mir mathematischem Deppen in der Schule nicht so vermittelt, dass ich sie begriffen hätte. Im Zweifelsfalle rechne ich bis heute entweder zu umständlich oder falsch und mein Mann lacht mich aus.
- Kürzlich beim Abi-Jubiläum an unserem guten alten bayerischen Pennal dann eine ernüchternde Einschätzung, von einem der es wissen muss: Unser immer noch wunderbarer Englisch-Leistungskurs-Lehrer (der jetzt ein paar Jahre vor der Pensionierung steht) nimmt kein Blatt vor den Mund, als er „damals“ und „heute“ vergleicht. Der überfüllte Lehrplan für die heutige G-8-Generation lasse „gar keine Zeit für Extras wie Songtexte übersetzen oder einfach mal über das Leben reden“. Wer zu unserer Zeit, also lange vor dem G-8, im durchaus anspruchsvollen Chemie-Leistungskurs gesessen habe, sei dort angemessen auf das Chemiestudium an der Uni vorbereitet worden. Das Tempo und die Stoffdichte heute produziere chronische Dünnbrettbohrerei: „Alle Themen können höchstens angerissen werden, um schnellstmöglich zum nächsten zu hetzen.“
Hmmm. Fazit? Früher war nicht alles besser.
Aber das Leben war nicht so hektisch, die Informationsflut zahmer, die Welt (scheinbar?) größer. Das hilft der heutigen Jugend in ihrem Bildungshamsterrad leider nicht weiter. Sie müssen heute schon mit 17, das Abi in der Tasche, funktionieren und nach einem kurzen, vorgestanzten Bachelor-Studium wirtschafts- und alltagstauglich sein. Die Kinder der Siebziger dagegen studierten bis Mitte 20 die verschiedensten Fächer vor sich hin, probierten viel aus und bekamen dabei ganz von selber vom Leben die gleichnamige Erfahrung vermittelt.
Muss also die Schule in unserer hochbeschleunigten Welt mehr Verantwortung übernehmen? Selbst wenn die Schule eigentlich Lebenstüchtigkeitscoaching für Pubertierende leisten müsste, würde es das zeitgenössische 8-jährige Stopfhirn-Gymnasium in seiner jetzigen Form gar nicht können. Äh – was machen eigentlich die Eltern der jungen Leute den ganzen Tag?
Starterpack für alle
Vielleicht wäre es ja schon genug, wenn die Bundeszentrale für Politische Bildung (oder, falls das dem Bildungsföderalismus widerspricht, machen es eben die Landeszentralen) allen Schulabgängern – auch denen, die zwischendurch aufgeben – einfach ein wasserdichtes Starterpack in die Hand drückt.
Da steht dann alles Maßgebliche drin, von der absolut ratsamen Haftpflichtversicherung über die für den Schulbesuch anrechnungsfähigen Rentenpunkte bis zum verfärbefreien Wäschewaschen. Samt Organspenderausweis zum Gleichausfüllen, Kondomen und, wenn’s das Staatssäckel hergibt, einer Bahn-Card 25 fürs erste Jahr in Freiheit. Könnten die jungen Leute einfach mitnehmen, wenn sie bei Mutti ausziehen und dürften dann (zumindest, wenn ein Backup in der Cloud verfügbar ist) nie mehr behaupten, man hätte sie nicht gewarnt …
Übrigens: Die Zeit stellte @Nainablabla just einiges mehr als 140 Zeichen zur Verfügung, um ihre Sicht der Dinge darzulegen. Sie findet Textanalyse jetzt doch nützlich, plädiert aber für einen Projektkurs Alltagskunde: „Natürlich sind das Sachen, die man auch googeln kann. Aber dann wird man von so einer Flut an Informationen überrollt, dass es wahnsinnig schwierig ist, zu unterscheiden: Was kann ich gebrauchen und was nicht?“
Tja. Fragen wir uns das nicht alle jeden Tag?!
Folglich bietet sich als ultimativer Ausweg wohl doch ein Dreiklang an. Nicht alles „Überflüssige“ streichen, Starterpacks verteilen und dann die Kids zum Schwimmenlernen ins Leben schubsen. Ach ja – und außerdem das Schulsystem neu erfinden.
P.S. vom 19.1.: Die fleißigen Schwaben machen gleich Nägel mit Köpfen, berichtet die Süddeutsche Zeitung: